DIE ANFÄNGE DER MODERNEN DIPLOMATISCHEN GEHEIMSCHRIFT. IBLIC ECA BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE DER ITALIENISCHEN VON DR. ALOYS MEISTER, PROFESSOR DER GESCHICHTE AN DER UNIVERSITÄT MÜNSTER I. W. PADERBORN. DRUCK UND VERLAG VON FERDINAND SCHÖNINGH. 1902. Vorwort. Seit die eminente Wichtigkeit der italienischen Gesandtenrelationen für die Geschichte der verschiedensten Länder, in denen diese Gesandten tätig waren, besonders der hohe Wert der Depeschen der venetianischen Geschäftsträger, allgemein anerkannt worden war und wieder und wieder die Forscher dieser Länder sich genötigt sahen, die »Fahrt über Berg«< anzutreten, um hier unter dem lachenden Himmel Italiens in die Gewölbe hinabzusteigen, in denen eine unversiegbare Quelle unserer historischen Erkenntnis rinnt, seitdem haben sie wieder und wieder ratlos dagestanden, wenn diese Berichte in Chiffren abgefafst weiterem Eindringen ein Ziel setzten. Nur die wenigsten Gelehrten sind vor diesem Hindernis nicht zurückgeschreckt und haben Wochen und Monate entsagungsvoller Arbeit daran gesetzt, um mit Anwendung nahezu divinatorischen Scharfsinns einige dieser Chiffren zu entziffern, den meisten aber ist schon beim blofsen Anblick der Mut entsunken, und sie haben meist freimütig ihre Unzulänglichkeit eingestanden. Schliesslich ist es ein stillschweigendes, durch das Beispiel zahlreicher Herausgeber sanktioniertes Übereinkommen geworden, den chiffrierten Depeschen fein säuberlich aus dem Wege zu gehen, und es nahm selbst eine wohlerzogene Kritik nicht mehr Anstofs daran, wenn sie stets wieder vor dem ominösen Plakat: »Hier folgen Chiffren!« Kehrt machen musste. Neuerdings sind von allen italienischen Gesandtenrelationen diejenigen der päpstlichen Kurie am eifrigsten erforscht und veröffentlicht worden. Das Preufsische Historische Institut in Rom und das Historische Institut der Görresgesellschaft haben uns mit einer Reihe stattlicher Bände der Nuntiaturberichte beschenkt, und auch andere Institute und viele Einzelforscher sind eifrig an der Arbeit, die Schätze des vatikanischen Archivs auf Nuntiaturberichte zu untersuchen und abzubauen. Diese Bearbeiter der päpstlichen Gesandtschaftsrelationen hatten, dank der vortrefflichen Organisation des päpstlichen Chiffrensekretariates, meist den beneidenswerten Vorzug, die vom päpstlichen Chiffrensekretär selbst vorgenommenen offiziellen Entzifferungen erhalten zu sehen, aber hin und wieder sahen doch auch sie sich in die Notwendigkeit versetzt, den heissen Kampf mit den Chiffren aufzunehmen. Vor den Chiffren darf die Forschung nicht Halt machen! Das ist eine Forderung, die hier offen ausgesprochen werden soll, und die sich auch erfreulicherweise schon in der Praxis durchzusetzen beginnt. Um zu diesem Ziele zu gelangen, mufs aber zunächst einmal die systematische Erforschung des Chiffren wesens ins Leben gerufen werden. Hier ist noch so gut wie nichts getan. Breite Massen des Materials müssen erst gehoben werden. Schlüsselsammlungen einzelner Chiffrensekretariate führen unsere Kenntnis schon weiter, wichtiger aber noch ist es, die Systeme kennen zu lernen, die während eines längeren Zeitraumes die Grundlage lieferten für die den einzelnen ausgesandten Geschäftsträgern mitgegebenen Chiffrieranweisungen. Ist einmal die Systemreihe eines Chiffrensekretärs in gröfserer Vollständigkeit zu übersehen, dann ist es meist leicht, durch Analogien den unbekannten Schlüssel anderer von ihm entworfener Chiffren zu rekonstruieren. Zwei gelehrte italienische Archivare sollen bei dieser Gelegenheit vor allen anderen in gröfster Anerkennung genannt werden, die beide in den sechziger und siebziger Jahren des XIX. Jahrhunderts Hunderte von chiffrierten Depeschen auf Grund einer mühsam errungenen breiten systematischen Basis entzifferten und deren Schlüssel wiederherstellten: Luigi Pasini1 in Venedig und Pietro Domenico Gabrielli in Florenz. Ihre Namen werden einen Ehrenplatz behalten, und die Historiographie des Chiffrenwesens wird sie stets mit Bewunderung zu nennen haben. Wenn man allein den praktischen Nutzen im Auge hat, dann wird man immer in den Spuren Pasinis und Gabriellis wandeln müssen und auch für andere Chiffrenzentren ähnliche Vorarbeiten in möglichst grofsem Umfange anzulegen haben. Diese lokale Behandlung wird den Vorteil bieten, die Tätigkeit eines Chiffrensekretariates geschlossen vor Augen zu führen. Sie wird gleichzeitig das beste Analogiematerial für Rekonstruktionen verlorener Schlüssel liefern. Aber daneben hat auch das ideelle. Gelehrteninteresse das Recht zu beanspruchen, dafs einmal die Fäden S. u. bei den Chiffren Venedigs. blofsgelegt werden, die von einer Chiffrenkanzlei zur anderen hinüberleiten. Es muss einmal festgestellt werden, ob und inwiefern innere Zusammenhänge bestanden haben, und es verdient nicht minder Klarlegung, woher die im XIV. und XV. Jahrhundert plötzlich auftretende Geheimschrift gekommen ist. Es erhebt sich die Frage, ob sie das damalige Bedürfnis aus dem Nichts erschaffen hat, oder ob ihre tiefsten Wurzelfasern weit hinabreichen in frühere Jahrhunderte, ob vielleicht gar auch auf diesem Gebiete die Antike die Elemente lieferte, aus denen das späte Gebilde entstand. Auf alle diese Fragen sollen im nachfolgenden nur Ansätze zur Beantwortung gewagt werden. Nur bescheidene Versuche können es sein, zur Lösung der sich ergebenden Probleme einige Beiträge zu liefern, Richtlinien, in denen sich weitere Untersuchungen vielleicht zu bewegen haben werden. Es mufs erst viel mehr Material bereitgestellt sein, ehe man damit fertige Gebäude errichten kann. Über Mangel an Arbeitsstoff wird sich niemand zu beklagen haben, die italienischen Archive sind überreich an Chiffren. Die päpstliche Geheimschrift schliefse ich aus den folgenden Untersuchungen absichtlich aus, da ich schon bald eine gröfsere Arbeit über die Entwicklung des päpstlichen Chiffren wesens zu liefern in der Lage bin. Nach Süditalien bin ich auf meiner Studienreise nicht gelangt, und deshalb harrt das Staatsarchiv von Neapel in Hinsicht auf die Kryptographie noch völlig der Ausbeute. Ich habe in allen Staatsarchiven Italiens, die ich besuchte, die gröfste Zuvorkommenheit gefunden und fühle mich den Herren Staatsarchivaren gegenüber zu grofsem Danke verpflichtet, die mir öfters innerhalb eines verhältnismäfsig kurzen Aufenthaltes die Einsicht in grofse Massen ihrer handschriftlichen Schätze ermöglichten. |