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In solchen einzelnen Bruchstücken, fährt V. fort, haben die englischen Tragiker bisher ihre Stärke gezeigt. Ihre Stücke, fast alle barbarisch, entblößt von Schicklichkeit, Ordnung und Wahrscheinlichkeit, bieten überraschende Lichtpunkte in dunkler Nacht. Der Styl ist zu schwülstig, zu unnatürlich, zu sehr dem asiatischen Bombast der hebräischen Schriftsteller nachgebildet; aber die Stelzen • des figürlichen Styls, auf welchen die englische Sprache geht, führen auch den Geist, wenn gleich mit unregelmäßigen Schritten, zu einer beträchtlichen Höhe."

In der weiteren Auseinandersetzung wird Dryden mit Shakspeare in Fehlern und Vorzügen auf Eine Linie gestellt, Virgil im Altertum und Racine in der neuen Zeit als die einzigen unbedingt großen Dichter gepriesen, und Addisons Cato als die einzige erträgliche Tragödie der Engländer bezeichnet. Ein Monolog aus dem letteren (ein morceau sublime) erfährt ebenfalls die Ehre der Ueberschung. Es wird gerühmt, daß die englischen Tragiker nach Addison regelrechter und weniger kühn geworden; V. hat sehr verständige (fort sages) neue Etücke geschn, die nur leider - et= was kalt gewesen. Die glänzenden Ungeheuer Shakspeares gefallen tausendmal mehr als die moderne Verständigkeit. Das poctische Genie der Engländer gleicht bis jetzt einem von der Natur gepflanzten buschigen Baum, der mit unsymmetrischem aber kräftigem Wuchs tausend Zweige aussendet. Er stirbt, wenn man seine Natur zwingen und ihn für die Gärten von Marly zurechtstußen will." Ein richtigeres Bild als Voltaire selbst beabsichtigte.

Die barbarischen englischen Stücke, welche er weit entfernt war seinen Landsleuten zur Nachahmung zu empfehlen, konnten aber bei kluger und vorsichtiger Ausbeutung ihrer dramatischen Motive dem etwas ausgenutzten klassischen Styl ein erneutes und reicheres Leben geben. Plagiate hielt Voltaire höchstens dann für

naturels dont la chair est héritière, c'est une consommation ardemment désirable. Mourir, dormir: dormir, peut-être rêver! Ah, violà le mal! ... Ainsi la conscience fait des poltrons de nous tous; ainsi la couleur naturelle de la résolution est ternie par les pâles teintes de la pensée: et les entreprises les plus importantes, par ce respect, tournent leur courant de travers, et perdent leur nom d'action. Wir nehmen zugleich von dieser Uebersetzung Act, um die Thatsache festzustellen, daß V. sehr gut englisch verstand, was man später zu seiner Entschuldigung zu leugnen versucht sein konnte.

unerlaubt, wenn sie zu offenbar und handgreiflich waren; einem Dichter, den die Menge nicht kannte und hoffentlich nie kennen sollte, dies und jenes zu entlehnen, gehörte zum poetischen Handwerk*). So stattlich die Zahl von Voltaires Tragödien ist und so rasch er einzelne von ihnen zu Papier brachte, hat er doch ge= wiß nicht selten die Mattigkeit und Unfruchtbarkeit seiner Einbildungskraft empfunden. Die auffallendste Eigenschaft seiner Stücke ist die Monotonie ihrer Süjets: fast in allen handelt es sich um Verwandtenmord. Um Gattenmord in der Artemire, Mariamne, Eriphyle, Zaire und Semiramis; um Brudermord in der Adelaide, im Don Pedro, Agathocles, in den Pelopiden; um Kindesmord im Brutus, in der Merope, in den Gesezen des Minos, in der Waisen von China; um Muttermord in der Eriphyle, Semiramis und im Orest; um Vatermord im Oedipus, Cäsar, Mahomet und in den Guebern**). Ein andrer stehender Artikel sind bei ihm abhanden gekommene und unvermutet wieder aufgefundene Kinder; so im Oedipus, in der Eriphyle, Zaire (welche die Pariser deshalb la pièce des Enfants-trouvés nannten)***), Mahomet, Merope, Semiramis, Olympia, in den Guebern, in den Gesezen des Minos und im Droit du Seigneur. Verwickelungen werden am gewöhnlichsten durch das falsche Gerücht von jemandes Tode herbeigeführt (Artemire, Eriphyle, Adelaide, Alzire, Merope), Auflösungen durch wunderbare Lebensrettungen nach dem Beispiel des Racineschen Joas oder noch wunderbarere Tötungen (Eriphyle, Semiramis, Orest, Olympia, Gesetze des Minos u. s. m.), wobei

*) 1, 35: Molière prenait quelquefois des scènes entières dans Cyrano de Bergerac, et disait pour son excuse: cette scène est bonne, elle m'appartient de droit; je reprends mon bien partout où je le trouve. Darauf folgt eine bequeme Nutzanwendung.

**) Im lettgenannten Stück macht Arzemon ganz unnötiger Weise, und ohne daß es zur Entwickelung etwas beitrüge, auf seinen ihm unbekannten Vater Jradan einen Mordversuch. Dem Dichter, der beständig Shakspeare seine horreurs vorwarf, war ein solches tragisches Ingrediens einmal unentbehrlich geworden. Seine Vatermörder kommen allmählich auch in Uebung und machen die Sache mit großer Gemütsruhe ab. Als Arzemon erfährt, daß der schwer Verwundete sein Vater ist, ruft er nur: Du nom de père, hélas! osé-je vous nommer? Puis-je toucher vos mains de cette main perfide? J'étais un meurtrier, je suis un parricide.

***) 48, 97.

Gespensterspuk an Gräbern, magische Schwerter, die ihre Richtung wider die Absicht des Führenden nehmen, und ähnliche unpsycho= logische Kunstgriffe eine große Rolle spielen. Die Eintönigkeit der moralischen Conflikte macht sich oft in der peinlichsten Weise fühlbar; so ist die widerwillige, vom Mörder ihrer Angehörigen zum Altar geschleppte, mißhandelte, von Haß erfüllte und doch schließ= lich aus abstraktem Pflichtgefühl bis zum Tode treue Gattin in Artemire, Mariamne, Alzire und Frene Zug für Zug nach derselben Schablone. Es ließe sich diese Armut des Dichters auch in einzelnen Wendungen nachweisen. Die Worte: Zaïre, vous pleurez? welche V. übrigens aus Shakspeare entlehnte, hatten nicht sobald Glück gemacht, als sie fast in jedem Stück angebracht wurden, nur einmal mit einer nicht unglücklichen Variation: Vous pleurez? Qui? moi? non!

Um so willkommener war die englische Literatur als Fundgrube neuer Ideen und Stoffe. Ben Jonson gab den Anstoß zum Catilina, Milton zur Oper Samson *), Wicherleys Plain Dealer zu La Prude, Thomson zu La Mort de Socrate, Pope zum Discours sur l'homme, Drydens Bearbeitungen des Chaucer zu einigen poetischen Erzählungen. Noch brauchbarer erwies sich Shakspeare zu einem solchem Zweck, und ihm verdankt eine Reihe von Dramen, die zunächst auf den Londoner Aufenthalt folgten, ihren Ursprung, bis ein unwillkommener Zwischenfall dieser Freibeuterei ein Ende machte.

Die erste Nachahmung Shakspeares war sehr erlaubter Art und wurde in der an Bolingbroke gerichteten Vorrede mit auffallender Bereitwilligkeit eingestanden. Der Anblick der lebendigen Handlung im Julius Cäsar gab darnach Voltaire den Gedanken ein, den älteren und glücklicheren Brutus auf die Bühne zu bringen, und Einiges auch in Frankreich zu versuchen, dessen

*) V. erwähnt Milton nicht als seine Quelle, es ist aber augenscheinlich, daß er ihn vor Augen hatte. Man vergleiche die Stelle (V, 1): Lumière, brillante image d'un Dieu ton auteur, premier ouvrage du créateur, mit Miltons (Sams. v. 70): Light the prime work of God to me is extinct; u IV, 5: Echo, voix errante, légère habitante de ce beau séjour mit dem Comus v. 230: Sweet Echo, sweetest nymph, that liv'st unseen within thy airy shell. Um so interessanter ist der Hohn, mit welchem V. im Dict. philos. von Miltons Samson spricht (43, 145 u. 146).

Wirksamkeit er in London an sich selbst erfahren hatte. Sein Brutus erschien 1730. Jn Wahrheit war dieser nicht dem Shakspeare, sondern dem Leeschen Brutus nachgebildet, und darum viel leicht in der Einleitung so viel Worte von Sh., während Lee in eine bescheidene Anmerkung verwiesen wurde. Voltaire beneidet die Reimlosigkeit des englischen Dramas und die Kühnheit der englischen Wortbildung, und bekundet dabei, was für die Folge nicht unerheblich ist, eine deutliche Einsicht in die Entbehrlichkeit des Reims für die englische und seine Unentbehrlichkeit für die französische Poesie*): Ließ sich diese Reimlosigkeit nicht auf die französische Bühne übertragen, so gab es dafür andre Schönheiten, die sich nachbilden ließen. Allerdings besize England, sagt V., nicht Eine gute Tragödie; es fehle dort an der Reinheit, der Regelmäßigkeit, der Schicklichkeit der Handlung und des Styls, an der Eleganz und allen den Feinheiten der Kunst, welche den Ruhm des französischen Theaters ausmachen; aber die unregelmäßigsten englischen Stücke hätten Einen Vorzug, den der Handlung. Mit welchem Vergnügen habe ich nicht in London eure Tragödie Julius Cäsar gesehen, welche seit 150 Jahren das Entzücken eurer Nation ist! Ich will ihre vielen barbarischen Unregelmäßigkeiten nicht gut heißen; wunderbar ist nur, daß sich deren nicht noch mehr in einem Werke finden, welches ein selbst des Lateinischen unkundiger und nur von seinem Genie unterrichteter Mann geschrieben. Doch ungeachtet so vieler roher Verstöße, mit welchem Entzücken sah ich Brutus, wie er das römische Volk versammelt und, den von Cäsars Blut geröteten Dolch noch in der Hand, von der Rednerbühne herab zu ihm spricht!**) Darauf erscheint Antonius und rührt dieselben Römer, welchen Brutus den Geist seiner barbarischen Strenge eingehaucht, zum Mitleid. Durch

*) La rime est essentielle à la poésie française. Notre langue ne comporte que peu d'inversions: nos vers ne souffrent point d'enjambement, du moins cette liberté est très-rare: nos syllabes ne peuvent produire une harmonie sensible par leurs mesures longues ou brèves: césures et un certain nombre de pieds ne suffiraient pas pour distinguer la prose d'avec la versification. 1, 77; 80 u. 81. Qui dit vers, en français, dit nécessairement des vers rimés. 1, 299.

**) Die Rede des Brutus übersett V. vollständig, die des Antonius charakterisiert er nur nach ihrer Wirkung; wahrscheinlich dachte er schon damals daran, es mit ihr zu machen, wie Molière mit Cyrano de Bergerac.

eine kunstvolle Rede stimmt er unmerklich die stolzen Geister um, und als er sie erweicht sieht, zeigt er ihnen die Leiche Cäsars und reizt sie durch die leidenschaftlichsten Vorstellungen zu Aufruhr und Rache." Einen aus Handwerkern und Plebejern bestehenden Chor auf die Bühne zu bringen, werde man in Frankreich freilich nicht wagen dürfen, wie denn die Engländer gleich den Griechen manches hätten darstellen können, wogegen sich der gebildetere Geschmack empöre. Auf der andern Seite lasse es sich aber auch nicht leugnen, daß die Franzosen oft zu bedenklich seien und aus Besorgnis, über die Grenzen des Tragischen hinauszugehn, sie manchmal nicht erreichten. „Ich bin weit entfernt es zu empfehlen, daß die Bühne eine Schlachtbank werde wie bei Shakspeare und seinen Nachfolgern, aber ich möchte doch glauben, daß es Dinge giebt, die nur noch den Franzosen ekelhaft oder gräßlich erscheinen und uns eine neue und ungeahnte Art Vergnügen bereiten könnten, wenn sie geschickt behandelt, mit Kunst dargestellt und vor allem durch den Reiz schöner Verse gemildert würden." Solche Kühnheiten sind nicht so leicht als man sich vorstellt, denn sie erfördern auch das entsprechende Wort, um wahre Größe in eine Handlung zu bringen, welche ohne erhabenen Styl nur abstoßend und efelhaft sein könnte. Gestehen doch die Engländer selbst, daß Shakspeare der einzige gewesen, der es verstanden, Geister zu beschwören*). Je gewaltigere Zurüstungen man macht, um so gebieterischer macht sich die Forderung geltend, daß man etwas Großes sage, sonst wäre man ein Dekorateur und kein Dichter." Nachdem er so viel zur Entschuldigung und Vorbereitung seiner Neuerungen gesagt, lenkt er vorsichtig in das Gewohnheitsgeleise der französischen Technik zurück. Die drei Einheiten seien unverbrüchliche Gesetze, schöne Verse die Hauptsache, Eleganz und Harmonie mehr wert als Morde, Galgen, Räder, Zauberer und Gespenster. Addisons Cato, die anerkannt beste englische Tragödie, verdanke ihren Ruhm allein ihren Detailschönheiten und wohlklingenden Versen.

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Es lohnte auch kaum der Mühe, zur Rechtfertigung dessen, was Voltaire im Brutus Neues brachte, so weit auszuholen. Seine ganze Kühnheit bestand eben in weiter nichts als in Deko

*) Mit Beziehung auf Popes Vers: Within that circle none but he

durst move.

Ges. Abh. v. Dr. Aler. Schmidt.

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